Auf der Suche nach den Nullorten, zum Beispiel am Centralweg. Ein Gastbeitrag von Tim Kummer mit Bildern von Urs Rihs.
Als ich das letzte Mal auf dem Centralwegareal war, sind alle Fenster des Böxlis eingeschlagen. Auf den lädierten Blechtischen stehen übervolle Aschenbecher neben leeren Pizzakartons. Jemand sucht Löwenzahn für die Meerschweinchen, was ich hier suche, weiss ich eigentlich auch nicht so genau. Nach zehn Jahren wurde jetzt ein Baukredit bewilligt, der anscheinend alle zufrieden stellt. Aus dem Baumzimmer, dem vorangegangen Projektentwurf, wird etwas ohne Holz und Minergie. 1900 Franken für die 41/2-Zimmer-Wohnung, 700 weniger als vorher. Der Quartierverein gibt sich zufrieden, mindestens die Hälfte soll bezahlbarer Wohnraum werden.
Es scheint, als wolle sich niemand mehr mit diesem Ort auseinandersetzen. Das Böxli versumpfte wohl schon länger. Zusehends harzte es, Leute zu finden, die es erhalten und bespielen. Um die paar Urban Gardening-Parzellen trauert wohl auch niemand gross, diente deren Ertrag mehr als netter Zusatz für die Bioprodukte im Kühlschrank und grüner Balsam für die bürgerlich gewordenen Alt-68er.
Im Böxli traf ich mich früher jeden zweiten Sonntag mit Reviravolta. Ich glaub, die gibt es noch, sind jetzt aber in den Westen gegangen. Wie viele, scheint es. Denen das Geld nicht reicht, in einer totalsanierten Viereinhalbzimmerwohnung das Studentendasein zu fristen. Die rausgeschmissen werden nach dreissig Jahren, um einer Studenten-WG Platz zu machen. In den Westen geflohen, wie jene, die Backsteinhäuser nicht mehr ertragen können. Die Neubauten mit den Ziegeln findet man anscheinend überall, wo die Gentrifizierung tobt, sei es das Migros-Prestigeprojekt im Breitsch oder den stets eingefärbten Neubau an der Lorrainestrasse.
Aber eben Reviravolta, meine Flucht von Zuhause, Hinterkappelen, wo die Aare halt etwas langsamer fliesst. Das heisst Pyros zünden mit Solitranspis voller Schreibfehler, stundenlange Diskussionen über Alles und Nichts mit anderen Sechzehnjährigen und bolo`bolo-Lesekreis. Sich auf einem ranzigen Sofa im Böxli ein A auf den Knöchel stechen lassen und kiffen, bis man in den Moonliner kotzt. Der Centralweg war mein Schlüssel für die Stadt, der beklaubarste Denner der Welt gleich um die Ecke. Salut nicken beim vorbeigehen. Ersatz dann auch für den Vorplatz, wenn der Jägermeister nur noch Nasenrümpfen herbeiführt und das Gas aus dem Ballon einen nicht mehr zum Lachen bringt.
Das Schönste am Centralweg war aber immer die Brache. Ich war noch zu jung, um mitzuerleben, wie sie von schlecht isolierten Bauwägen besetzt wurde und sich Quartiervereine gegen die Stadt stemmten. Aber etwas Magisches hatte sie immer. Jetzt sitzen da meist kiffende Jugendliche an den vertaggten Tischen, Leute die sich kurz ausruhen, die halt sonst nirgends Platz finden. Ein Gewerbeschüler zeigt mir den Ort, wo er seinen Joint versteckt, den er in der 10ni-Pause anzündet und nach der Schule fertigraucht. Bern braucht diese Nicht-Orte und Schandflecke, die einen vermüllt begrüssen und die Flecken auf den Kleidern vergessen lässt. Es würde sich lohnen, um die Leere zu kämpfen. Leere Häuser, leere Parks, leere Brachen. Zu kämpfen gegen die Illusion, dass Wohnungsnot das grösste Problem dieser erkaltenden Stadt ist, dass jeder Fleck ein designiertes Pop-up-Irgendwas braucht und jede gemütliche Sitzgelegenheit «es Kafi u nume grad zahle» voraussetzt.